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Kirchengesetz
zur Prävention und Intervention
gegen sexualisierte Gewalt
in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und ihrer Diakonie
(Präventionsgesetz – PrävG)

Vom 17. April 2018

(KABl. S. 238)

Änderungen
Lfd. Nr.
Änderndes Recht
Datum
Fundstelle
Geänderte
Gliederungs-einheiten
Art der
Änderung
1
Artikel 6 des Dritten Kirchengesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften
31. Okto-
ber 2022
§ 1 Abs. 1
Absatzbezeichnung gestrichen
Abs. 2
aufgehoben
§ 1a
eingefügt
§ 3
neu gefasst
§ 4 Abs. 1
Wörter ersetzt
§ 5 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz
Wort eingefügt
Satz 2
Wörter ersetzt und gestrichen
Satz 4 bis 61#
eingefügt
§ 6 Abs. 1
neu gefasst
§ 8 Abs. 1
neu gefasst
§ 9 Abs. 2
neu gefasst
§ 11
neu gefasst
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Die Landessynode hat das folgende Kirchengesetz beschlossen:
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§ 1
Geltungsbereich

Dieses Kirchengesetz gilt für die kirchlichen Körperschaften und ihre Dienste und Werke einschließlich der Diakonischen Werke in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (kirchliche Träger). Die Diakonischen Werke – Landesverbände sollen ihre Mitglieder zur Beachtung dieses Kirchengesetzes verpflichten.
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§ 1a
Begriffsbestimmungen

( 1 ) Eine Verhaltensweise ist sexualisierte Gewalt, wenn ein unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betroffenen Person verletzt wird. Sexualisierte Gewalt kann verbal, nonverbal, durch Aufforderung oder durch Tätlichkeiten geschehen. Sie kann auch in Form des Unterlassens geschehen, wenn die Mitarbeiterin bzw. der Mitarbeiter für deren Abwendung einzustehen hat. Sexualisierte Gewalt ist immer bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. Juli 2022 (BGBl. I S. 1082) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung und § 201a Absatz 3 oder §§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuches gegeben.
( 2 ) Gegenüber Minderjährigen kann sexuell bestimmtes Verhalten im Sinne des Absatzes 1 insbesondere unerwünscht sein, wenn eine körperliche, seelische, geistige, sprachliche oder strukturelle Unterlegenheit und damit eine gegenüber der Täterin bzw. dem Täter fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung gegeben ist. Bei Personen unter 14 Jahren ist das sexuell bestimmte Verhalten stets als unerwünscht anzusehen.
( 3 ) Gegenüber Volljährigen kann sexuell bestimmtes Verhalten im Sinne des Absatzes 1 insbesondere unerwünscht sein, wenn die Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist.
( 4 ) Unangemessenen Verhaltensweisen, die die Grenze der sexualisierten Gewalt nicht überschreiten, ist insbesondere gegenüber haupt- und ehrenamtlichen Betreuungspersonen durch geeignete Normen, Regeln und Sensibilisierung, insbesondere im pädagogischen und pflegerischen Alltag, entgegenzutreten.
( 5 ) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sinne dieses Kirchengesetzes sind in einem öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Dienst- oder Arbeitsverhältnis oder zu ihrer Ausbildung Beschäftigte sowie ehrenamtlich Tätige bei kirchlichen Trägern.
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§ 2
Grundsatz

Zur Erfüllung des kirchlichen Auftrags gehört eine Kultur des Respekts und der grenzachtenden Kommunikation. Dieser Kultur sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtet.
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§ 3
Abstinenzgebot- und Abstandsgebot

Sexuelle Kontakte zu Personen, die zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einem Obhutsverhältnis, in einer Seelsorgebeziehung oder in einer vergleichbaren Vertrauensbeziehung stehen, sind ihnen untersagt. Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die sich aus der Wahrnehmung der Aufgaben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergeben, dürfen nicht zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse, für sexuelle Kontakte oder andere grenzüberschreitende Verhaltensweisen missbraucht werden (Abstinenzgebot). Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben eine professionelle Balance von Nähe und Distanz zu wahren (Abstandsgebot).
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§ 4
Schutz vor sexualisierter Gewalt

( 1 ) Kirchliche Träger sind verpflichtet, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie diejenigen, die kirchliche Angebote wahrnehmen, insbesondere anvertraute Kinder und Jugendliche, vor allen Formen sexualisierter Gewalt zu schützen.
( 2 ) Die Vorschriften des staatlichen Rechts bleiben unberührt.
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§ 5
Prävention gegen sexualisierte Gewalt, Präventionsbeauftragte

( 1 ) Kirchliche Träger stellen sicher, dass unter ihrer Verantwortung keine Person, die wegen einer in § 72a Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 10 Absatz 10 des Gesetzes vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung bezeichneten Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung rechtskräftig verurteilt worden ist, Kinder und Jugendliche und andere Schutzbefohlene beaufsichtigt, betreut, erzieht oder ausbildet oder einen vergleichbaren Kontakt hat. Sie haben sich von allen Personen, die beruflich in der Kinder- und Jugendarbeit oder in kinder- und jugendnahen Bereichen tätig sind, bei der Einstellung und in regelmäßigen Abständen, mindestens nach jeweils fünf Jahren, ein erweitertes Führungszeugnis nach § 30a Bundeszentralregistergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1984 (BGBl. I S. 1229, 1985 I S. 195), das zuletzt durch Gesetz vom 18. Juli 2017 (BGBl. I S. 2732) m. w. N. vom 29. Juli 2017 geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung vorlegen zu lassen. Von Ehrenamtlichen soll je nach Art, Intensität und Dauer des Kontakts dieser Personen mit Kindern und Jugendlichen die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses verlangt werden.
( 2 ) Kirchliche Träger haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit und im kinder- und jugendnahen Bereich tätig sind, aufzufordern, sich mit den Inhalten einer Selbstverpflichtung auseinanderzusetzen. Die Erklärung der Selbstverpflichtung wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch die kirchlichen Träger ausgehändigt. Die kirchlichen Träger sind verpflichtet, regelmäßig Schulungen zum Inhalt der Selbstverpflichtung anzubieten. Die Schulungsinhalte orientieren sich an den Vorgaben des § 8. Inhalte der Schulungen sind insbesondere die Prävention zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, das Abstinenzgebot und das Abstandsgebot sowie die Melde- und Beratungspflicht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind verpflichtet, an den Schulungen teilzunehmen und sich mit den Inhalten der Selbstverpflichtung auseinanderzusetzen. Die Teilnahme ist den Mitarbeiterinnen bzw. den Mitarbeitern zu bestätigen und aktenkundig zu machen.
( 3 ) Die Kirchenkreise und die Hauptbereiche unterstützen die Kirchengemeinden und die anderen kirchlichen Träger im Kirchenkreis in ihrer Präventionsarbeit. Zu diesem Zweck bestellen die Kirchenkreise und die Hauptbereiche je für sich oder mit mehreren gemeinsam eine Präventionsbeauftragte bzw. einen Präventionsbeauftragten mit entsprechender fachlicher Qualifikation. Die Diakonischen Werke – Landesverbände sollen für ihren Bereich die Bestellung von Präventionsbeauftragten regeln.
( 4 ) Für die kirchlichen Träger wird ein Rahmenschutzkonzept der Nordkirche zur Prävention und Intervention in Fällen sexualisierter Gewalt entwickelt, das verbindlich ist. Auf der Grundlage des Rahmenschutzkonzepts soll jeder kirchliche Träger mit Unterstützung der Präventionsbeauftragten eine Risikoanalyse durchführen und ein Schutzkonzept entwickeln. Die Umsetzung der Vorgaben des Satzes 2 ist der jeweiligen aufsichtführenden Stelle nachzuweisen.
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§ 6
Meldepflicht, Meldebeauftragte und Intervention

( 1 ) Jede Mitarbeiterin bzw. jeder Mitarbeiter hat zureichende Anhaltspunkte für den Verdacht einer Verletzung des Abstinenzgebotes und des Abstandsgebotes oder sexualisierter Gewalt im kirchlichen Bereich unverzüglich der bzw. dem für seinen kirchlichen Träger zuständigen Beauftragten zu melden (Meldepflicht). Sie sind berechtigt und verpflichtet, sich zur Einschätzung eines unklaren Vorfalls durch die bzw. den zuständigen Beauftragten beraten zu lassen.
( 2 ) Die Kirchenkreise und Hauptbereiche bestellen je für sich oder mit mehreren gemeinsam eine unabhängige Beauftragte bzw. einen unabhängigen Beauftragten mit entsprechender fachlicher Qualifikation. Die bzw. der Meldebeauftragte nimmt die Informationen nach Absatz 1 entgegen und leitet diese an den jeweils zuständigen kirchlichen Träger oder die jeweilige zuständige dienstaufsichtführende Stelle weiter. Die Diakonischen Werke – Landesverbände sollen für ihren Bereich die Bestellung von Meldebeauftragten regeln.
( 3 ) Alle kirchlichen Träger sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass Meldungen über Fälle sexualisierter Gewalt bearbeitet und die notwendigen Maßnahmen veranlasst werden, um die Gewalt zu beenden, die betroffenen Personen zu schützen und weitere Vorfälle zu verhindern (Intervention).
( 4 ) Arbeits- und dienstrechtliche Pflichten, insbesondere zum Schutz des Beichtgeheimnisses und der seelsorgerlichen Schweigepflicht sowie Mitteilungspflichten und erforderliche Maßnahmen im Fall des Verdachts einer Verletzung von Pflichten aus dem Arbeits- oder Dienstverhältnis bleiben unberührt.
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§ 7
Aufgaben der Landeskirche, Fachstelle

( 1 ) Die Landeskirche unterstützt die Beauftragten in ihrer Präventionsarbeit und in der Aus-, Fort- und Weiterbildung in Prävention und Intervention gegen sexualisierte Gewalt. Zu diesem Zweck richtet die Landeskirche eine Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt ein (Fachstelle). Die Fachstelle ist Ansprech- und Beratungsstelle in der Präventionsarbeit. Gleichzeitig nimmt sie die Aufgaben einer Präventions- und Meldebeauftragten der Landeskirche wahr.
( 2 ) Die Fachstelle entwickelt Standards für die Präventionsarbeit sowie für den Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt. Sie unterstützt die kirchlichen Träger, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen zu ergreifen. Arbeits- und dienstrechtliche Maßnahmen und Zuständigkeiten bleiben davon unberührt.
( 3 ) Die Fachstelle erarbeitet Informationsmaterial, entwickelt Aus-, Fort- und Weiterbildung zur Prävention. Sie koordiniert die Bildungsarbeit zur Prävention und unterstützt bei der Sicherung der Intervention durch den Aufbau eines Kompetenz-Netzwerkes.
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§ 8
Aus-, Fort- und Weiterbildung

( 1 ) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen in ihrer Ausbildung sowie in ihrer Tätigkeit in geeigneter Form mit grenzachtender Kommunikation, der Prävention zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, dem Abstinenzgebot und dem Abstandsgebot sowie der Melde- und Beratungspflicht vertraut gemacht werden. Die kirchlichen Träger stellen sicher, dass die Inhalte nach Satz 1 zu den Grundlagen der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören.
( 2 ) Einrichtungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung in kirchlicher Trägerschaft sollen in geeigneter Weise für die Problematik sexualisierter Gewalt sensibilisieren und die Prävention zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zum Inhalt ihrer Angebote machen. Dazu gehören insbesondere Informationen über interne und externe Beratungsstellen, Verfahrenswege bei Anzeichen sexualisierter Gewalt und Hilfen für von sexualisierter Gewalt Betroffener sowie Angebote für die persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Sie werden dabei durch die Fachstelle unterstützt.
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§ 9
Hilfe für Betroffene

( 1 ) Die Landeskirche bietet Betroffenen von sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und ihren Rechtsvorgängerinnen in Anerkennung ihres Leids und in Verantwortung für die Verfehlung der Institutionen Hilfe an.
( 2 ) Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts (Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen) werden von der Landeskirche gewährt, sofern die Voraussetzungen für eine Bewilligung vorliegen. Die Leistungen sind freiwillig und werden ohne Anerkennung einer Rechtspflicht gezahlt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Der kirchliche Träger, in dem die sexualisierte Gewalt stattgefunden hat, muss sich an den Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen beteiligen. Über die Bewilligung von Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen entscheidet eine von der Kirchenleitung eingesetzte Kommission. Diese ist in ihrer Entscheidung unabhängig.
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§ 10
Schweigepflicht

Alle Personen, die Aufgaben nach diesem Kirchengesetz wahrnehmen oder wahrgenommen haben, sind verpflichtet, über die ihnen dabei bekanntgewordenen Tatsachen Stillschweigen zu bewahren. § 6 und Aussagepflichten nach dem allgemeinen Recht bleiben unberührt.
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§ 11
Verordnungsermächtigung

Die Kirchenleitung regelt durch Rechtsverordnung:
  1. das Rahmenschutzkonzept nach § 5 Absatz 4 Satz 1,
  2. das Nähere über die Beauftragung, die Sicherung der Unabhängigkeit der Beauftragten,
  3. das Nähere über die Meldung sowie die daraufhin zu ergreifenden Maßnahmen nach § 6,
  4. das Nähere zur Ausgestaltung der Fachstelle nach § 7,
  5. das Nähere zur Ausgestaltung der Aus-, Fort- und Weiterbildung nach § 8,
  6. das Nähere zur Bildung der Kommission nach § 9 Absatz 2 Satz 5, zur Amtszeit ihrer Mitglieder, zu den Grundsätzen ihrer Arbeit, zur Möglichkeit der Überprüfung ihrer Entscheidung, zu den Voraussetzungen von Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen sowie zum Recht auf Auskunft aus relevanten Akten und Dokumenten.
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§ 12
Übergangsregelung

Die bei Inkrafttreten des Kirchengesetzes im Amt befindlichen Mitglieder der Kommission nach § 9 Absatz 2 Satz 3 bleiben bis zur Bildung einer neuen Kommission im Amt.
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§ 13
Inkrafttreten, Evaluation

Dieses Kirchengesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.2# Das Kirchengesetz ist spätestens nach Ablauf von fünf Jahren zu evaluieren.

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1 ↑ Red. Anm.: Der bisherige Satz 4 wird damit zu Satz 7.
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2 ↑ Red. Anm.: Das Kirchengesetz trat am 2. Juni 2018 in Kraft.